Immer wieder begegne ich Menschen, die mich mit viel Verwunderung zurücklassen. Im Bereich Motorrad fahren sind es oft die, die elektronischen Helfern wie z. B. ABS ihre Daseinsberechtigung absprechen wollen. Über die Jahre ist mir aufgefallen, dass man diesen Typ Mensch anhand einiger Merkmale recht treffsicher erkennen kann: (immer!) männlich, über 40, leichter bis stark ausgeprägter Bauchansatz und das Haar auf dem Rückzug vom letzten Gefecht. Den Führerschein natürlich schon so lange in der Tasche, dass man dazu noch „Lappen“ sagt und man schon genau überlegen muss, wie lange man den Motorradführerschein jetzt eigentlich hat. Die jährliche Fahrleistung spielt sich dann aber natürlich im unteren Tausenderbereich ab, wenn überhaupt. Natürlich trifft das nicht immer zu 100 % zu, aber es ist schon auffällig.

Woher dieser Hass auf ABS & Co. kommt? Ich denke, es liegt daran, dass sich dieser Typ Mensch recht schnell bevormundet fühlt. Er will selbst entscheiden, wann und wie stark er bremst. Generell ist dieser Typ Mensch sowieso gerne sein eigener Herr und hat stets gerne die alleinige Befehlsgewalt was seine Entscheidungen betrifft. Was wiederum auf eine lustige Art interessant ist, wenn man bedenkt, wohin diese selbst getroffenen Entscheidungen bei so mancher Person geführt haben. Eine ordentliche Portion Selbstüberschätzung kommt da natürlich noch obendrauf, sonst wäre es ja nur halb so anstrengend.
Sätze, die man dabei oft hört: „ICH habe ja noch RICHTIG Motorrad fahren und bremsen gelernt damals!“ Ja Achim. Du hast auch mal Mathematik gelernt, wenn ich dich jetzt aber fragen würde, was es mit dem Distributivgesetz oder einem Skalarprodukt auf sich hat, würde nicht viel mehr als ein Stammeln aus dir rauskommen, nur damit du im nächsten Moment verkünden kannst: „Pha, das braucht doch kein Mensch! Mir reicht Plus und Minus! So!„
Aber bevor ich hier zu sehr abschweife, schauen wir uns doch mal an warum ein ABS System am Motorrad keine schlechte Idee ist.
Wenn wir mit dem Motorrad maximal verzögern wollen, gibt es im Grunde drei Zustände:
- man bremst zu wenig
- man bremst zu viel
- man bremst genau richtig
Bremst man zu wenig, verzögert man nicht maximal. Bremst man länger als einen Sekundenbruchteil zu viel so dass das Rad blockiert, packt es einen ohne ABS aufs Maul. Bremst man genau richtig, darf man das nächsten Mittwoch am Stammtisch verkünden (bei den anderen zwei Varianten gibt es vielleicht gar keinen Stammtisch mehr für einen, je nach Situation).
Das Problem an der Geschichte ist aber: wenn wir uns die aufgebrachte Bremskraft als eine Art Spektrum vorstellen, dann nehmen die beiden Bereiche die am Ende vielleicht weh tun, also zu wenig oder zu viel bremsen, einen großen Teil davon ein. Wohingegen das „genau richtig bremsen“ nur einen kleinen Bereich auf eben jenem innehat.

Wenn wir uns den hübschen, bunten Balken da oben mal anschauen sehen wir auch schon das Problem: der Bereich für den „exakt richtigen Bremsdruck“ ist recht klein. Der Balken für „zu viel“ ist auch nicht besonders groß, denn wenn das Rad mal steht… steht es. Und wir lassen die Bremse dann ja automatisch los wenn wir auf der Fresse liegen. Der große Rest des Spektrums, also „zu wenig Bremskraft„, springt aber sofort ins Auge. Denn dieser geht von „ich bremse gar nicht“ bis eben zum perfekt dosierten Bremser. Und da liegt auch schon der Hase im Pfeffer bzw. der Motorradfahrer im Sarg: Denn wenn Achim (um bei dem Namen von oben zu bleiben) voller Stolz erzählt, er habe auch ohne ABS noch nie ein blockierendes Vorderrad gehabt, dann einzig und allein aus dem Grund, weil er beim Bremsen irgendwo auf dem gelben Balken herumstolpert. Wenn er Glück hat recht nah am Grünen Bereich. Wenn er Pech hat weiter rechts am Balken. Kurz und knapp: es werden wichtige Meter verschenkt, die wir in einer Gefahrensituation brauchen, um nicht auf einem Hindernis etc. aufzuschlagen. Und warum werden die verschenkt? Aus Angst davor, in den Roten Bereich zu kommen. Denn wo der rote Bereich auf jeden Fall einen Sturz nach sich zieht, könnte es ja sein, dass ein halbherziger Bremser vielleicht ja doch noch reicht, um das Motorrad rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Und da die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt… in diesem Falle vielleicht zusammen mit dem Fahrer.

Der nächste Punkt ist: bei wechselnder Fahrbahnbeschaffenheit, wechselndem Belag, Schmutz auf der Fahrbahn etc. verschieben sich die Bereiche. Das heißt, selbst wenn wir mit exakt gleichem Druck auf der Bremse verzögern, kann es mal zu wenig, mal genau richtig, und mal zu viel sein. Je nach Untergrund. Und dieser kann natürlich auch während eines Bremsvorgangs wechseln, was das alles noch viel lustiger macht.
Ein weiterer Punkt, der immer und immer wieder unterschätzt wird, ist der sogenannte „Workload“ oder auf Deutsch: die Arbeitsbelastung. Wenn ich mir bei einer Vollbremsung mit ABS keine Gedanken machen muss wie der Fahrbahnbelag ausschaut, ob es nass oder trocken ist, ob meine Bremse warm gefahren oder noch kalt ist und vor allem, ob ich diesen kleinen, grünen Bereich auch wirklich treffe, dann ist mein Workload in der Situation wesentlich geringer als wenn ich mir darüber ohne ABS Gedanken machen muss. Ich kann mit ABS einfach am Hebel ziehen und das Motorrad verzögert bestmöglich, ganz ohne die Sorge, dass das Vorderrad blockieren könnte. Egal welcher Untergrund, egal ob Nass oder Trocken. Der Workload ist niedrig in der eh schon angespannten Situation. Und bei niedrigem Workload passieren weniger Fehler.
Long Story Short: ABS am Motorrad ist eine feine Sache. So fein, dass ich, wenn ich die Wahl habe, IMMER das Motorrad mit ABS nehmen würde. Egal was die Achims dieser Welt vor sich hin brabbeln. Natürlich kann man auch ohne ABS ein erfülltes und langes Motorradfahrerleben haben. Aber es gibt einfach Situationen, in denen man kein Glück hat und dann auch noch Pech dazu kommt. Für solche Situationen haben schlaue Köpfe das ABS erfunden.
Lieber Jung-Gorilla
Ich bin ein alter Primat und entspreche exakt dem Feindbild das du hier beschreibst.
Ja, ich habe keinen blassen Schimmer was es mit dem Distributivgesetz oder einem Skalarprodukt auf sich hat. Und irgendwie geht mir das auch am A**** vorbei.
Als ich mich das erste mal ohne ABS aufs Maul gelegt habe, warst du nicht einmal Käse-Quark im Schaufenster.
Aber ich habe nichts gegen ABS. Ich finde die Technik wichtig und gut. Und ja, ich fahre eine neuere Enfield Classic weil die ABS hat und mir das Sicherheit gibt.
Trotzdem bin ich froh, dass ich es gelernt habe auch ohne ABS zu fahren und ich bin traurig wenn ich es nun verlerne.
Und wenn ich mal etwas Kohle auf Seite habe, kaufe ich mir so einen richtig geilen Oldtimer. Und die alte Maschine fahre ich dann ohne ABS.
Das aber viel langsamer und vorsichtiger. Viel langsamer und vorsichtiger als ihr jungen Gorillas mit euren fahrbaren Software-Paketen unterwegs seit.
Herzliche Grüsse
http://www.derhalbhartemann.com
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Ach, ich würde nicht von Feindbild sprechen. Feind ist so ein hartes Wort. 😁
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Ich bin auch so einer, der den Führerschein noch auf einem Motorrad gemacht hat, das der junge Hupfer nicht mal starten kann 🙂 Trotzdem – ABS ist bei schlechtem Untergrund und wechselndem Grip sicher eine gute Sache, wenn es ein gutes ABS ist (und da gibt es große Unterschiede). Auf trockenem Asphalt schenkt ABS zumeist etwas Bremsweg her. In Summe überwiegen für den Durchschnittsfahrer aber die Vorteile. Ansonsten ist einiges in dem Artikel m.A.n. einfach falsch: „Wenn ich mir bei einer Vollbremsung mit ABS keine Gedanken machen muss …“ ist ein Trugschluss, ich würde den Satz vervollständigen mit „… dann liege ich auf der Schnauze“. In Fahrtechnikkursen lernt man, dass ABS zwar vor dem Blockieren schützt, nicht aber vor dem Kopfüber-Sturz nach vorne. Der Gummi hält, das Hinterrad steigt und steigt = Abflug über den Lenker. Also auch mit ABS muss man wissen wann man besser nachlässt und eine Lücke sucht. Noch ein Zitat: „Für solche Situationen haben schlaue Köpfe das ABS erfunden“. Ja, nützt aber auch nix mehr, wenn ein dummer Kopf gefühllos das ABS überfordert. Man ist auch nicht immer sofort tot, nur weil ein Rad ein paar Zentimeter blockiert, was es übrigens beim ABS auch macht. Und nirgendwo bemerkt der Autor, dass der richtige Gummi wichtiger ist als ABS und die ganzen Assistenten (das gilt übrigens auch für Autos). Wenn es keine ordentliche Verbindung zum Asphalt gibt, ist die Elektronik nutzlos, oder sogar hinderlich. Diese bedingungslose Technik-Elektronik-Gläubigkeit „macht eh alles die Maschine“ sehe ich als echte Gefahr. ABS ist bei einem modernen Motorrad sowieso Standard, also eigentlich keine wirkliche Frage. Schlimm finde ich die sonstigen modernen Assistenten, die einem das Fahren abnehmen wollen. Wofür kaufe ich mir ein Motorrad wenn dann die von japanischen Techniker entwickelte Software fährt? Zum drastischen Foto mit dem Text „Der Fachmann wird es erkennen: da fehlt was“. Ich würde mal behaupten, das ist ein modernes Motorrad mit einem sehr guten ABS (besseres als bei meiner Classic). Das was hier wohl gefehlt hat ist das Hirn des Fahrers, und zwar schon vor dem Crash.
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Danke für deinen Input, Michael! Es ist immer schön, wenn man Leute mit einem Beitrag so bewegt! 👍
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