
Es ist so weit. Ylvie und ich haben unsere ersten gemeinsamen 10.000 km geknackt. Da kann man durchaus schon mal ein Fazit ziehen zu dem Mädel. Wer es eilig hat, hier die Kurzfassung: tolles Motorrad, absolut zu empfehlen, der kleine 14l Tank (ich hatte bedenken) erweist sich auf keinen Fall als störend und auch für ein paar Tage verreisen (Stichwort Gepäck) geht mit ihr locker! Der Motor ist über jeden Zweifel erhaben, noch nie haben sich 115PS nach so viel angefühlt und auch optisch ist das Mädel einfach ein zuckersüßes Daifuku
So, und für Leute mit etwas mehr Zeit und nem schnuff Langeweile, hier die ausführliche Version.
10.000 km in gut 5 Monaten. Darunter viele größere Tagestouren, eine mehrtägige Reise in den Schwarzwald und in die Vogesen, ein paar Tage Harz, einige kleine, sportliche Runden auf den Hausstrecken und alltägliche Fahrten zur Arbeit oder um kleine Besorgungen zu erledigen. Und es gibt tatsächlich nichts wo ich sagen müsste: „oh, das kann das Mädel aber leider so gar nicht“. Ist sie deshalb frei von jeglichem Makel? Nein, natürlich nicht. Und auch wenn das Jammern auf hohem Niveau ist: vorab mal ein paar Punkte, die mir anders besser schmecken würden.
Kettenspanner
Im besten Fall ein Schätzeisen. Wenn man es nach der Skalierung auf dem Ding einstellt, kann man fast sicher sein, dass die Kette nicht fluchtet. Ein Laser zum Ausrichten ist dringend angeraten und man darf sich nicht von den Markierungen auf dem Spanner wuschig machen lassen.
Tachometer / Bordcomputer
Nettes Design, stört nicht die Retro-Optik und ist gut abzulesen. Aber wer um Himmels Willen hat es für eine gute Idee gehalten, die Knöpfe für das Durchschalten der Anzeigen, auf die rechte Seite zu setzen? Man muss, wenn man die angezeigten Informationen während der Fahrt ändern möchte, immer umständlich mit der linken Hand über dem Tacho rumfummeln. Nicht sehr Bedienerfreundlich.

Die Außentemperaturanzeige funktioniert nur während der Fahrt einigermaßen gut. Ansonsten hat es auch mal schnell 35°C an einem 25°C Nachmittag und man muss sich leider entscheiden: möchte man die Uhr sehen? Oder doch lieber die Tageskilometer oder Wassertemperatur usw.? Platz für eine permanente Anzeige der Uhrzeit wäre gewesen, aber vielleicht soll das auch den Alltag entschleunigen… Wer weiß was sich die Japaner dabei gedacht haben.
Die Kritik an der Tankanzeige ist nun wirklich meckern auf sehr hohem Niveau, aber wir sind ja schließlich in Deutschland und da gehört meckern zum guten Ton! Wenn es nach dem ersten Balken geht, und man das hochrechnen würde, wären locker 400 km mit einer Tankfüllung drin. Leider eher Wunschdenken, die Balken verschwinden nicht linear, sondern zum Ende hin immer schneller. Reicht der erste Balken noch für gut 100 km, fallen die nächsten immer schneller weg. Das automatische Umspringen auf einen extra Kilometerzähler, sobald der Reservepegel erreicht ist, ist wiederum sehr praktisch.
Sozius Fußrasten
Ich lebe auf großem Fuß. Unter Schuhgröße 45 geht nichts und auch kleine Kindersärge passen mir wie angegossen. Auf den Rasten stehe ich mit den Fußballen, sogar noch nen Schnuff Richtung Zehen. Da kommen mir schon mal die Soziusrasten bzw. deren Ausleger in die Quere. Klar, man könnte die Dinger abschrauben, aber wenn man in eine sehr motivierte Polizeikontrolle gerät, und das Motorrad als Zweisitzer eingetragen ist, kommt man in Erklärungsnot.
Fahrwerk
Natürlich müssen bei einem 10.000 € Motorrad irgendwo Abstriche gemacht werden. Bei der XSR900 ist es das Fahrwerk. Man hat zwar einige Einstellmöglichkeiten (jeweils Vorspannung + Zugstufendämpfung), aber das Non-Plus-Ultra ist es nicht. Nach dem Wechsel von der Serienbereifung (Bridgestone S20) auf den Metzeler Roadtec01 SE und ein bisschen einstellen ist es zwar spürbar besser geworden, aber Luft nach oben ist da weiterhin. Speziell kurz Stöße bekommt der Fahrer direkt durchgereicht.
Hinterer Bremsflüssigkeitsbehälter
Machen wir es kurz: der Pissbecher beim Arzt sieht hübscher aus. Kann man ändern, klar, aber so nen Joghurtbecher an so ein schönes Motorrad zu schrauben. Schämt euch!

Brotkasten aka. Auspuff
Kommen wir gleich zur nächsten Entgleisung des guten Geschmacks: der Brotkasten den man hier als Auspuff deklariert. Mir ist klar, Euro4 macht es für die Hersteller nicht einfacher was die Konstruktion des Abgasstrangs angeht. Aber muss das so aussehen? Muss das so ein Mords-Teil sein, das man da unten dran hängt? Wahrscheinlich muss es das, schön finde ich es trotzdem nicht.
Blinker
Leute… natürlich wollt ihr auch nach dem verkauf des Motorrades noch Geld verdienen. Aber keine LED Blinker an einem Motorrad von 2016? Und dann auch noch welche, die rumwackeln wie ein Entenarsch während der Paarungszeit? Echt jetzt?
Für ca. 140 € kann man die Teile durch original Yamaha LED Blinker austauschen. Dazu muss auch das Blinker-Relais* getauscht werden oder alternativ klobige Widerstände verbauen, die auch noch ordentlich Wärme entwickeln. Alles gut zugänglich und kein Hexenwerk, dennoch wären LED Blinker als Standard schön gewesen bei einem modernen Motorrad.
So, das war es auch schon mit dem Gemecker. Kommen wir zum Schwärmen!
Motor
HOLY LORD JESUS! Ich weiß nicht wie die das machen und vielleicht will ich es auch gar nicht wissen, weil es das alles etwas entzaubern würde, aber MEIN LIEBER SCHOLLI dieser CP3 Motor, mit läppischen 115PS und 87,5Nm Drehmoment auf dem Papier, der zieht dir nicht nur die Wurst vom Brot, der reißt dir die komplette Hand mit ab! Dieser Motor verwandelt dieses schnuckelige „Retro-Bike“ in einen verdammten Hooligan, der sich nicht zweimal bitten lässt, die Triple-Fäustchen zu schwingen.
Das Teil fühlt sich nicht nach „nur“ 115PS an. Das Teil fühlt sich an, als ob man damit die Welt erobern könnte. Und zwar an einem Montagmorgen in der Frühstückspause! Und genug Zeit, um sich danach noch kurz sein Leberkäsebrötchen zu holen, bleibt dabei auch noch. Man muss es erlebt haben, weil das glaubt einem keiner!

Sound
Natürlich: besser geht immer. Und besser als Serie sowieso. Aber selbst mit dem Serienauspuff ist der Sound der kleinen schon solide. Vom rau-knurrenden 3-Zylinder Sound beim harten Beschleunigen bis hin zum herrlichen Brabbeln im Schiebebetrieb, einfach schön anzuhören. Nicht zu Laut, nicht zu leise, kann man gut mit leben und es besteht kein zwingender Handlungsbedarf. Wer das Ganze etwas dumpfer möchte, der Zubehörmarkt bietet natürlich Alternativen an. Wobei da Vorsicht geboten ist: einige Zubehör Anlagen fressen etwas Leistung und neigen dazu, das berühmten „Konstantfahrruckeln“ hervorzurufen. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, der greift zu Akrapovič. Preislich nehmen sich die namhaften Hersteller alle nicht viel, man muss bei der XSR900 sowieso immer komplett mit Krümmer tauschen.
Elektronik
Für knapp über 10.000 € Liste bekommt man ein Motorrad mit 3 Fahrmodi: Sport [A] / Standard [Std] / Regen [B] und 3 Modi für die Traktionskontrolle: wenig regelnd [1] / stärker regelnd [2] und komplett aus [OFF]. Und das Zeug ist auch noch brauchbar!
Im Standard Modus hat der Hooligan seinen Baseballschläger. Standard halt. Im B-Modus bekommt der Baseballschläger einen dicken Schaumstoff Überzug. Das merkt man dann zwar immer noch, aber es knockt einen nicht direkt aus. Im A-Modus bekommt der Hooligan den Baseballschläger in der Negan Variante, schön mit Stacheldraht und allem drum und dran. Man muss dann aber schon aufpassen, dass man sich nicht selbst damit verletzt. Auf die XSR900 bezogen heißt das: die kleine ist dann am Gas ziemlich zickig. Der Grat zwischen „auf Zug halten“ und „alle Pferde wollen gleichzeitig los“ ist dann sehr schmal.
Ach die Traktionskontrolle regelt sinnvoll. Anfangs hatte ich den 2-er Modus drinnen, der aber schon recht früh eingreift, und auch beim Abheben des Vorderrades sofort mit erhobenem Zeigefinger ankommt und recht abrupt regelt. Der 1-er Modus taugt mir persönlich mittlerweile eher, er regelt sanft ein, lässt kleine Wheelies zu und man fühlt sich nicht bevormundet. Die ganz krassen Typen können die Traktionskontrolle natürlich komplett abschalten. Aber das ist dann ein Hooligan mit extrem schlechter Laune, ich glaube das überlasse ich den Profis und denen, die sich dafür halten.
Natürlich ist ein sauber regelndes ABS auch serienmäßig mit an Board, so wie sich das eben für ein modernes Motorrad gehört.
Optik

Aussehen ist nicht alles. Bla… Bla… Bla… LEUTE! Wacht auf! Das erzählen sich hässliche Motorräder in der wöchentlichen Therapiesitzung! Und die hässlichen Fahrer drücken sich in der Zeit an der Kuchentheke rum! Die XSR900 ist einfach eine Schönheit. Von den oben angesprochen Macken mal abgesehen (das macht sie ja eigentlich auch nur noch interessanter), ist diese Maschine einfach formvollendet. Mit dem passenden Zubehör von Yamaha (Kennzeichenhalter / Sozius-Höcker / LED-Blinker usw.) kann man das ganze noch ein ganzes Stück weit individualisieren bzw. direkt so konfigurieren und den ein oder anderen Makel ausmerzen. Natürlich alles im Tausch gegen Euros! Und wer jetzt kommt und meint „Na ja, ist halt Geschmackssache“… Geh heim, und bleib da! Und nehm dein hässliches Motorrad gleich mit!
Individualisierbarkeit
Wie schon angesprochen: Da sind fast keine Grenzen gesetzt. Das liegt vor allem an dem Design-Konzept, dass bei der XSR900 umgesetzt wurde. Ziel war es, dass man möglichst viel nur mit an- und abschrauben individualisieren kann. Kein Schweißen, kein feilen, kein hindängeln. Plug&Play quasi.
Von Kleinigkeiten wie Blinker und Rücklicht, über Tachoverlegung bis hin zu einer kompletten Farbänderung durch die Tankcover, ist theoretisch alles drin. Zugegeben, die Tankcover sind nicht ganz billig, aber immer noch billiger als ein komplett neuer Tank und sehr schnell auszutauschen. Wer möchte, kann jeden Tag in einer anderen Farbe durch die Gegend fahren. Wem das Zubehör direkt von Yamaha nicht genügt: natürlich haben auch andere Anbiete schöne Teile für die XSR900.
Fahrverhalten
Quirlig. Das beschreibt es am besten. Ausreichend Schräglagenfreiheit, zackiges Einlenkverhalten und das alles ohne irgendwie „nervös“ zu sein. Es ist einfach ein Traum. Das gute Stück fährt sich wie ein Fahrrad. Ein sehr aggressives und böses Fahrrad, zugegeben, aber die kleine wiegt halt auch nur 195 kg (vollgetankt) und ist entsprechend leichtfüßig. Und wenig Gewicht kommt einem Motorrad einfach bei so gut wie allem zugute.
Das Wort „Fahrmaschine“ passt auf die XSR900 wie die Faust aufs Auge. Denn das will die kleine: fahren! Egal ob enge Kurven, flotte Passagen oder sanftes Cruisen, geht alles mit dem japanischen Präzisionskrad! Zugegeben, für das sanfte Cruisen braucht es einen Fahrer, der sich beherrschen kann, aber da kann ja das Motorrad nichts für!
Die Kleine nimmt Kurven mit einer Präzision, die man rein von ihrer Optik her nicht erwarten würde. Auch hier sei wieder angemerkt: hinter dem Retro-Look verbirgt sich ein modernes Motorrad, das keine Abstriche beim Fahren macht! Auch nicht zugunsten der Optik!
Reisetauglichkeit
Ich war skeptisch. Sehr skeptisch! Angefangen von dem kleinen 14L Tank, über die Sitzbank bis hin zu den Verstaumöglichkeiten auf dem Motorrad.
Mit dem 14L Tank komm ich gut 250 km weit. Im Reisemodus. Also nicht ständig angasen wie ein bekloppter, sondern einfach flott Touren fahren. Wenn die Reserveleuchte mal an geht, und man sich etwas zügelt, sind 40 km kein Problem. Das Reservespielchen weiter auszureizen habe ich mich bis jetzt noch nicht getraut.
Die Sitzbank bereitet mir auch nach 7h+ keine Beschwerden. Das liegt meines Erachtens vor allem daran, dass man auf dem Mädel eine aktive Sitzposition einnimmt und die Sitzbank nicht zu weich ist. Und da man ca. alle 250 km sowieso tanken muss, hat man eh regelmäßig Gelegenheiten sich die Beinchen zu vertreten.
Weiteres Plus: unter der Sitzbank ist tatsächlich etwas Stauraum vorhanden. Bordwerkzeug, Fahrzeugpapiere etc. sind da gut aufgehoben.
Gepäck ist so eine Sache bei der XSR900. Ich persönlich hab mit einer Hecktache von Bagtecs* eine für mich sehr praktikable Lösung gefunden. Der Platz nach hinten raus ist durch das wunderschöne Rücklicht etwas begrenzt, aber mit 62L Stauraum komme ich für meine Bedürfnisse (5-7 Tage mit Übernachtungen im Hotel etc.) sehr gut zurecht. Wer mehr Platz braucht: auf der Hecktasche lässt sich noch zusätzliches Gepäck befestigen.
Natürlich ist die XSR900 keine Reiseendeuro. Und das will sie auch gar nicht sein. Wer aber Bedenken hat, ob er mit der kleinen auch mal ein paar Tage verreisen kann, dem sie hiermit die Angst genommen.
Fazit
Ich bereue nichts! Eine Fahrspaßmaschine, die auch bei längeren Touren nicht schlapp macht! Eine Schönheit auf zwei Rädern! Ein Wolf im Schafspelz, von Ahnungslosen belächelt, von Kennern bewundert! Mein persönliches Traummotorrad!
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